Balancetraining: Wichtig oder nur ein Hype

Balancetraining: Der nächste Hype oder fundamental wichtig?

Balancestraining steht mehr und mehr im Fokus bei Sportarten aller Art. Sowohl im Profisport werden diese Fertigkeiten gezielt trainiert als auch bei Freizeit- und Hobbyathleten dient Gleichtgewichtstraining zur Verbesserung von Sicherheit und Leistung. Außerdem spielt es im Bereich der Rehabilitation oder der älteren Generation eine wichtige Rolle. Schon in der Vergangenheit wurde das Gleichgewichtstraining zu einem größeren Thema in der Fitnesswelt als Pads, Kreisel, Luftkissen und Bosu-Bälle und viele weitere Varianten von instabilen Untergründen, ihren Weg in die Fitnesswelt fanden.

Zum aktuellen Fakt, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit Stürze als zweitgrößte Ursache für Unfalltode herausfiltern konnte, ist es vor allem das funktionale Training in der jüngeren sportlicheren Entwicklung, die das Thema erneut in den Vordergrund rückt. Leider wird meiner Meinung nach über das Gleichgewichtstraining noch nicht so tiefgründig gesprochen wie über das Kraft-, Ausdauer– oder Mobilitätstraining. Wie so oft, wird die Wichtigkeit eines funktionierenden Gleichgewichtssystems vielen erst klar, wenn es eingeschränkt oder gar beschädigt ist. Vorbeugend agiert wird noch zu selten.

Gleichgewichtstraining etabliert sich in Leistungs- und Hobbysport

Nur allmählich etabliert sich in vielen Sportarten die Tatsache, dass es einen positiven Zusammenhang gibt zwischen der sportlichen Leistungsfähigkeit und einem gut ausgeprägten Gleichgewichtssinn. Balancetraining wird immer noch in der Trainingsprogrammierung vernachlässigt. Berufs- und Hobbysportler, Trainer und Therapeuten sehen bis heute noch Balancetraining als schwer greifbare Fähigkeit und wissen teilweise nicht genau, wie sie es effizient ins Training mit einbauen können. Hilfreich ist es, sich den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gleichgewichtssystems genauer anzuschauen.

Damit unseren Körper im Gleichgewicht gehalten wird, sind die folgenden drei Systeme involviert:

– Sinnesorgan: Augen – das visuelle System
– Sinnesorgan: innere Ohr – das vestibuläre System
– Tiefensensibilität: bestehend aus einer Vielzahl von Rezeptoren, die mechanische Eingangssignale wie Zug- & Druckstimuli, in Muskeln, Gelenken, Sehnen und auf der Haut aufnehmen – das propriozeptive System

Die vereinten und verarbeiteten Inputs leiten kontinuierliche Ausgangssignale ein, die dann relativ komplexe und vielschichtige physiologische Anpassungen durchführen. Diese dienen der Kontrolle des Körperschwerpunktes und damit einer ausbalancierten Körperhaltung und -bewegung unter Berücksichtigung der Gravitation. Die optimale körperliche Ausprägung kann also sicherstellen, dass wir uns mit geringstmöglicher Vorbereitung in jede Richtung bewegen können – sei es nun ein schneller Richtungswechsel im Sport, bei Gefahr oder die sturzvermeidende Gewichtsverlagerung in einer spontanen Situation.

Balancetraining – ein paar praktische Systemstests 

Mache hier und direkt einen Selbstversuch zur praktischen Verdeutlichung dieser drei Systeme.
Suche dir dafür eine freie und möglichst ebene Fläche und ziehe deine Schuhe aus:

System-Test 1: Stelle dich für 20 Sekunden auf ein Bein, beginnend mit dem vermeintlich stärkeren – auch Standbein genannt – und blicke dabei mit neutraler Kopfposition nach vorn. Dann auf das schwächere Bein. Getestet wird hauptsächlich das propriozeptive System – was deine Muskeln, Gelenke und Fußsohle empfangen und was dein zentrales Nervensystem (ZNS) daraus macht. Im Normalfall werden beide Sprunggelenke einige kleine lokale Bewegungen machen. Diese sollten dich jedoch relativ stabil stehen lassen, auch wenn das schwächere Bein mehr Bewegungen macht.

System-Test 2: Wiederhole den Aufbau von System-Test 1 und führe diesen im Einbeinstand für 10 Sekunden durch. Hinzu machst du mit deinem Kopf eine 90° Rotation nach rechts, und dann für 10 Sekunden nach links. Der Blick folgt jeweils in horizontaler Höhe. Durch die Kopfbewegung kommt primär das vestibuläre System (Ohr) hinzu. Hier können sich schon einige Entwicklungsfelder zum Thema Balancefähigkeit zeigen.

System-Test 3: Der schwierigste Test, wenn man es noch nie durchgeführt hat. Beginnend mit dem Aufbau von System-Test 1. Du suchst dir mehrere Blickpunkte aus, die du bitte langsam mit deinen Augen abfährst, während dein Kopf (wichtig!) in neutraler Position bleibt. Mache den Versuch, mit den Augen, von oben-links diagonal nach unten-rechts zu schauen. Nimm dir zu Anfang zwei Fixpunkte zu Hilfe.

Somit schließen wir das visuelle System (Auge) auf einen von vielen möglichen Wegen in die Aufgabe ein. Ergänzend wichtige Aspekte sind scharfe Zielfixierung bei gleichzeitigen Kopfbewegungen, Größe des bewussten oder unbewussten Sichtfeldes, Nah-Fern-Fokussierung etc.. Dieser System-Test wird dir mit Sicherheit eine Kombination von Blickrichtung und Standbein aufgezeigt haben, die merklich schlechter als die anderen zwei Testvarianten funktioniert hat.

Die Steigerung und Herausforderung wird noch deutlicher, wenn der Einbeinstand mit geschlossenen Augen durchgeführt wird und somit die Aufgaben gänzlich an die zwei anderen Systeme delegiert werden.

Die Einbindung dieser drei Systeme in alltägliche und sportartspezifische Bewegungen verhelfen uns nicht nur auf wahrnehmende bzw. bewusster Ebene zu mehr Sicherheit. Darüber hinaus bestehen eine Vielzahl von unbewussten Prozessen, die im ZNS entweder den Zustand von Sicherheit (bei störungsfreiem Informationsaustausch), oder von Gefahr (bei Ausbleiben von Informationen) signalisieren. Im Extremfall kann Letzteres abhängig von der Dimension des Informationsverlustes sogar zu einem globalen Leistungsabfall führen, da das ZNS grundlegend die primäre Aufgabe verfolgt unseren gesamten Körper vor Verletzungen zu schützen.

Nun stellt sich die Frage, wie kommen diese Defizite zustande und wie können wir dagegen steuern?

Wichtige Faktoren, welche die Funktion unseres Gleichgewichtssystems einschränken bzw. stören können, sind akute oder aus der Vergangenheit bestehende Verletzungen, Krankheiten und das Alter. Es sind jedoch in den häufigsten Fällen die alltäglichen (Fehl-)Haltungen und Bewegungsmuster, wie die Nutzung von Smartphone- und Computer-Bildschirmen. Das weitreichende Ausbleiben von Bewegung in der Freizeit trägt dazu enorm bei. Man kann sich an dieser Stelle vorstellen, welche Kopf- und Augenposition im Berufsleben eingenommen werden und welche teils gänzlich aus dem körperlichen Bestand verschwunden sind. Man denke nur an den erlernten Schulterblick beim Autofahren. Elektrische Systeme im Auto Unterstützen das Einsparen dieser elementar wichtigen Übung. Zweiradfahrer sind da im Vorteil. Hier wird diese Bewegung noch gebraucht.

Wie können wir Balance unter Berücksichtigung aller drei Gleichgewichtssinne trainieren?

Ist die altbewährte Nutzung von instabilen Untergründen weiterhin zeitgemäß? Eher nicht. Denn mittlerweise haben wir heute den Kenntnisstand, dass unser Bewegungssystem so spezifisch und komplex arbeitet, dass wir uns nur exakt in der Bewegung verbessern werden, die wir auch trainieren. Im Fall des instabilen Untergrunds bleibt ein direkter Transfer in den Sport oder Alltag aus. Eine Anregung ist an dieser Stelle andere sportliche Alternativen wie Power Plate und EMS zu denken.

Eine repräsentative Anzahl an Studien, welche Vorteile des Trainings auf stabilen Untergründen herausstellen konnten, sind mittlerweile durchgeführt worden.
Doch dieser Trainingsansatz dient nur der Förderung des propriozeptiven Systems. Dadurch werden nicht nur das visuelle (Auge) und vestibuläre System (Ohr) im Training vernachlässigt. Leider wird auch der wichtige Prozess der Verarbeitung und Zusammenfügen von Signalen der jeweiligen Systeme im ZNS gänzlich ausgeklammert.

Ganzheitliche Gleichgewichtsübungen sind elementar wichtig

Rufen wir uns die vorrangegangen System-Tests auf, so geht es zunächst um die elementaren, primitiven Funktionsfähigkeiten der einzelnen Teilsysteme. Unter Berücksichtigung des Prinzips der sich in einem bestimmten Verhältnis allmählich steigernden, entwickelnden Belastung und der Variation sollten die Übungen allmählich dem sportartspezifischen oder alltagsspezifischen Anforderungsprofil angepasst werden.

Auf visueller Ebene (Auge) kann wie folgt steigend, entwickelnd variiert werden:

• Augenbewegung durchführen, mit fixierter neutraler Kopfposition (auf-ab/links-rechts/diagonal)
• Augen auf ein Zielfixieren mit gleichzeitiger Kopfbewegung
• Augenbewegung und Kopfbewegung parallel und gegensätzlich zueinander

Auf der Ebene der wahrnehmenden Tiefensensibilität kann die Ausgangslage wie folgt fortschrittlich variiert werden:

sitzend / liegend / zweibeiniger Stand / leichter Ausfallschritt / Einbeinstand / Gehen mit spezifischen Bewegungen / Augen schließen

Auf vestibulärer Ebene (Ohr) können folgende Einheiten variiert werden:

• Auf-und-ab-Bewegungen des Kopfes
• Vor-und-zurück-Schieben des Kopfes
• diagonale Bewegungen des Kopfes
• Rotation des Kopfes

Kombinieren wir die drei Bausteine in unendlicher Variation und der persönlich eigenen funktionellen Kapazität entsprechend, fördert das die Integration und Verarbeitung der Signale im Zentralen Nerven System.

Die Augen- und Kopfposition, sollten möglichst im Kraft- und Ausdauertraining mitberücksichtigt werden. Wer Yoga praktiziert wird Überschneidungen zu einigen ihrer klassischen Übungen und Praktiken erkennen. Die hier angeführten Erkenntnisse sind in den Hauptteilen der Kraft- oder Ausdauertrainings integrierbar. Mit Hilfe eines Partners kann bei jeder einzelnen Bewegung bewusster auf die Augen- und Kopfposition geachtet werden. Verbesserungen der Signalqualität und -Verarbeitung stellen sich ein.

Bespielhafte Leitfragen sind:

• Wie nehme ich beim Laufen mein peripheres Sichtfeld wahr?
• Wenn die Übung anstrengender wird, warum halte ich mein Kopf schief?
• Kompensiert die Kopfüberstreckung beim Kreuzheben (Deadlift) meine fehlende Augenbewegung?
• Ist meine Balance nach dem Training besser oder schlechter?

Fazit:

Instabile Untergründe unterstützen nur das propriozeptive System. Zur Erinnerung: Die Tiefensensibilität oder Propriozeption wird oft auch “sechster Sinn” genannt. Dieses Sinnessystem gewährleistet die Empfindung von Bewegungen, Haltung und Lage des Körpers im Raum. Propriozeptive Informationen werden von mehreren Arten von Rezeptoren in Sehnen, Muskeln und Gelenken geliefert.

Wenn wir das Trainingsprinzip des spezifischen Reizes anwenden, werden wir nur exakt in der Bewegung uns verbessern, die wir auch trainieren. Im Falle eines instabilen Untergrundes werden wir bei der Nutzung uns dort verbessern, aber der direkte Transfer in den Alltag oder Sport bleibt aus.

Das menschliche Gleichgewichtssystem besteht aus drei Systemen. Dem Auge (Visuell), der Tiefensensibiliät (Propriozeption) und dem Ohr (Vestibulär). Für alle drei System gilt: Benutze sie oder verliere sie!

Für das Zentrale Nerven System bedeutet Balance Sicherheit. Sicherheit bedeutet wiederum eine umfassende Leistungssteigerung.

Unterschiedliche Körper-, Augen- und Kopfbewegungen und deren Kombination beinhalten ein globales ganzheitliches Gleichgewichtstraining.